Ex-Berater von Obama: „Die Entwicklung von KI ist viel bedeutsamer al…
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Annotated by Patrick
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Ex-Berater von Obama: „Die Entwicklung von KI ist viel bedeutsamer als die Erfindung des Internets“
Nipun Mehta saß im Rat des Ex-US-Präsidenten zur Bekämpfung von Armut. Er ist sich sicher: Läuft die technologische Entwicklung so weiterläuft, gibt es „viele problematische Szenarien“.
Heute, 19:40 Uhr
Herr Mehta, noch vor Ihrem Uni-Abschluss Ende der 1990er Jahr hatten Sie eine vielversprechende Tech-Karriere im Silicon Valley gestartet. Heute haben Sie sich ganz dem Thema Selbstlosigkeit verschrieben. Wie kam es zu dem Wandel?
Ursprünglich komme ich aus Indien. Als ich 13 war, bin ich mit meinen Eltern in die USA gezogen. Ich bin im Silicon Valley aufgewachsen, zu einer Zeit als das Internet groß wurde. Ich habe diese katastrophale Gier in der Internetblase gesehen. Gleichzeitig habe ich dort viel Kreativität wahrgenommen und den Wunsch, die Welt zu verbessern. Ich habe mich gefragt, wie man diese Energie und Motivation kanalisieren kann.
Wie haben Sie das in die Praxis umgesetzt?
Ich habe experimentiert. Ich habe ein paar Freunde zusammengetrommelt und mit ihnen eine Website für ein Obdachlosenheim erstellt. Und wir haben festgestellt: Geben ohne jegliche Bedingung kann Erstaunliches leisten. Andere profitieren davon, aber auch man selbst.
Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass es sich sogar positiv auf die Gesundheit auswirkt. Wenn man etwas gibt, etwas Selbstloses tut, schüttet der Körper Glückhormone aus – Oxytocin, Dopamin, Serotonin und Endorphine. Man wird gewissermaßen umgehend belohnt dafür. Wir fragten uns: Warum macht das nicht jeder? Und wir haben uns vorgenommen, Selbstlosigkeit cool zu machen.
Wenn ich mir die vielen Fans ansehe, die sich hier beim Europäischen Forum in Alpbach zu jeder Zeit um Sie scharen, scheint Ihnen das gelungen zu sein.
Schon in den ersten Monaten nach dem Start unserer Organisation ServiceSpace kamen Tausende von Unterstützern an Bord. Und so viele Menschen profitieren von unseren Diensten.
Wie funktioniert Ihre Organisation ServiceSpace?
Anfangs haben wir Websites für gemeinnützige Organisationen erstellt. Dann haben wir unsere Dienstleistungen auf verschiedene Web-Lösungen erweitert. Wir haben Portale für gute Nachrichten und für Freundlichkeit gestartet und You-Tube-Kanäle. Es ist sehr schwer, kommerzielle Anbieter für so etwas zu begeistern, denn schlechte Nachrichten verkaufen sich immer besser. Also tun wir es als kostenlose Dienstleistung.
Später haben wir begonnen, auch offline zu arbeiten. Wir haben Retreats veranstaltet. Und ein Restaurant gegründet namens Karma Kitchen: Man bestellt etwas und auf der Rechnung steht kein Betrag. Denn jemand vor Dir hat bereits für Dich bezahlt. Und Du bezahlst, was Du möchtest, für die nächste Person. Diese Idee hat sich dann blitzschnell verbreitet. In Wien gibt es zum Beispiel ein Restaurant namens Vollpension, das nach demselben Prinzip funktioniert.
Wie finanzieren sich Ihre Projekte?
Durch freiwillige Gaben, die Menschen anbieten, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Dadurch ist es keine Transaktion, sondern der Aufbau einer Beziehung. Es ist eine Idee, die in unserer marktdominierten Welt radikal erscheint. Dabei ist es keine neue Idee, sondern eine uralte. Klöster haben zum Beispiel auf diese Weise gearbeitet und manche tun es noch heute. Wir wollen uns dabei die aktuelle technologische Entwicklung zunutze machen.
Im Tech-Sektor gibt es viele einflussreiche Unternehmen. Nehmen Sie Spenden von ihnen an?
Wir sind eine Bewegung von Einzelpersonen. Aber Unternehmen können auch einen Beitrag leisten, allerdings nicht als Sponsoren. Ihr Beitrag darf keine Transaktion sein, sondern muss immer ohne Gegenleistung erfolgen. Wir sind gemeinnützig und völlig unkommerziell. Wir haben als Organisation nur sehr geringe Kosten. Jeder stellt uns seine Zeit und Ressourcen kostenlos zur Verfügung.
Das wichtigste Gut ist für uns ist Zeit. Wir arbeiten mit vielen Menschen, die sich freiwillig engagieren. Wenn man statt fünf Mitarbeitern, die 40 Stunden pro Woche arbeiten, 40 Freiwillige hat, die sich fünf Stunden pro Woche engagieren, dann erzielt man den gleichen Netto-Output. Und Technologie hilft, das sinnvoll zu koordinieren.
Viele finanziell wohlhabende Menschen neigen dazu, Leid aus dem Weg zu gehen. Daher lernen sie nie, damit umzugehen und daran zu wachsen.
Nipun Mehta, Gründer der Organisation ServiceSpace
Als Sie gerade frisch verheiratet waren, sind Sie mit Ihrer Frau auf eine Pilgerreise durch Indien gegangen. Was hat Sie auf dieser Reise am meisten geprägt?
Wir sind 1000 Kilometer zu Fuß durch das Land gelaufen. Die Herzlichkeit und die Großzügigkeit, mit der wir empfangen wurden, waren unglaublich. Was mich besonders beeindruckt hat, war, dass die Menschen, die am wenigsten haben, am meisten geben.
Warum ist das so?
Finanziell arme Menschen haben einen engeren Bezug zum menschlichen Leid, weil ihr Leben davon geprägt ist. Wenn sie andere Menschen sehen, die Hilfe brauchen, können sie sich damit identifizieren. Sie denken sich: Auch ich brauche gelegentlich Unterstützung und freue mich, wenn ich das mal für jemand anderen tun kann. Viele finanziell wohlhabende Menschen neigen dazu, Leid aus dem Weg zu gehen. Daher lernen sie nie, damit umzugehen und daran zu wachsen. Dadurch fühlen sie sich isoliert und ihre Widerstandskraft sinkt.
Haben die Menschen in unserer Gesellschaft heute Empathie verlernt?
Wir haben uns vom Mitgefühl entfernt. Das liegt zum großen Teil daran, dass wir nicht in der Lage sind, miteinander zu kommunizieren. Es ist ein neurologischer Prozess. Heutzutage denken wir oftmals mehr in Transaktionen als in Beziehungen und sind zunehmend auf uns selbst fokussiert. Dadurch schrumpfen die Räume tiefer Gemeinschaft, in denen Mitgefühl entstehen kann.
Vor einigen Jahren veröffentlichte Google eine Datenbank mit Millionen von Büchern, die seit 1500 veröffentlicht wurden. Wissenschaftler fanden heraus, dass zwischen 1960 und 2008 immer mehr individualistische Wörter verwendet wurden und immer weniger gemeinschaftliche. Zum Beispiel wurden Begriffe wie „Freundlichkeit“ und „Hilfsbereitschaft“ um 56 Prozent weniger eingesetzt und „Bescheidenheit“ und „Demut“ um 52 Prozent. Stattdessen tauchten häufiger Wendungen wie „Ich kann es selbst“ und „Ich komme zuerst“ auf. Wir sind vom Wir zum Ich übergegangen. Unsere Sprache spiegelt unser Leben wider. Unser übertriebenes Anspruchsdenken verstärkt den Narzissmus und verringert das Mitgefühl.
Wie macht sich das in den USA, wo Sie leben, bemerkbar?
Sie gehen in ein Restaurant, in dem Menschen zusammen an einem Tisch sitzen, und jeder starrt auf sein Handy. Im Durchschnitt aktualisieren wir unsere Mobilgeräte 2600 Mal pro Tag, um einen Dopamin-Kick zu bekommen. Es ist eine langsame, aber sichere Sucht, die uns einsam macht.
Die sozialen Medien engen unseren Horizont weiter ein, indem sie uns immer wieder das zeigen, was wir sehen wollen – egal ob es wahr ist oder nicht. Wir sind zu sehr vernetzt und zu wenig verbunden.
Die USA sind stark geprägt von dieser Entwicklung, aber es ist auch ein globales Phänomen. In einer weltweiten Erhebung haben 20 Prozent der Erwachsenen angegeben, niemanden zu kennen, auf den sie sich verlassen können, wenn sie Hilfe brauchen.
Was hat diesen Trend verursacht?
Ich persönliche habe alle kommerziellen sozialen Medien immer gemieden. Als Informatiker habe ich diese Entwicklung kommen sehen. Facebook tut so, als wären zwei Menschen miteinander verbunden – aber dafür nimmt die Plattform eine Provision. Das ist so als würde das Unternehmen Werbetafeln zwischen uns beiden aufstellen.
Anfangs gab es viele neue Möglichkeiten, wie man mit anderen Menschen in Kontakt treten konnte. Inzwischen ist klar, dass solche Plattformen die Verbindung nicht vertiefen, sondern entwerten. Diese Art der Kommunikation schafft Echokammern. Die Menschen leben in algorithmischen Blasen. Das ist sehr gefährlich. Wir fangen an zu glauben, dass es die Welt auf uns abgesehen hat. Die politische Polarisierung, die wir gerade sehen, macht dies sehr deutlich.
Im Moment findet ein Wettrüsten um Daten statt.
Nipun Mehta, ehemaliger Berater des US-Präsidenten Barack Obama
Lässt sich dieser Trend noch umkehren?
Wir müssen es versuchen. Aber ob es uns gelingt, ist unklar. Technologie ist darauf ausgelegt, den Status quo zu automatisieren. Und der Status quo ist ziemlich furchtbar.
Wenn wir die technologische Entwicklung so weiterlaufen lassen, sehe ich viele problematische Szenarien. Die radikale Zentralisierung von Macht, zum Beispiel, und extreme Ungleichheit. Aber auch jenseits der Extreme zeichnen sich sehr bedenkliche Entwicklungen ab.
Welche?
Die sozialen Medien haben unsere Aufmerksamkeit in Beschlag genommen, aber Künstliche Intelligenz kann unsere Beziehungen vollständig vereinnahmen. Experten gehen davon aus, dass bis zum nächsten Jahr 90 Prozent der Online-Inhalte von KI generiert werden. Das ist ein rasantes Tempo. Die Entwicklung von KI ist viel bedeutsamer als die Erfindung des Internets. Wir dürfen bei der KI nicht die Fehler mit den sozialen Medien wiederholen.
Wie könnte das gelingen
Die KI ist immer nur so gut, wie die Informationen, mit denen man sie füttert. Im Moment findet ein Wettrüsten um Daten statt. Die aktuellen Untersuchungen zeigen: Synthetische Daten sind in vielen Fällen nicht so gut wie natürliche, also menschliche Daten.
Wir experimentieren gerade damit, große Sprachmodelle wie ChatGPT mit kleinen zu verbinden. In den letzten 25 Jahren hat ServiceSpace riesige Mengen an „mitfühlenden Daten“ gesammelt. Wir haben sie alle in einen Bot eingegeben und ihn gefragt: Wie würde menschliches Mitgefühl reagieren?
Wir arbeiten an KI-Systemen, die menschliche Werte integrieren. Wie wäre es, wenn Sie einen personalisierten „Yoda-Bot“ hätten, der Ihnen nicht nur hilft, Antworten zu finden, sondern Sie auch einlädt, tiefere Fragen über das Leben zu stellen?
Was ist bei Ihren Experimenten passiert?
Ein Beispiel: Ein Freund von mir hatte viele Jahre einen Hund, den er sehr liebte und der schwer erkrankte. Er wusste nicht, ob es moralisch die richtige Entscheidung ist, den Hund einschläfern zu lassen. Er hat den Bot dazu befragt. Der Bot hat ihm erzählt, was andere in ähnlichen Situationen getan haben, und ihm geraten, zu meditieren.
Mein Freund hat dann beide Hände auf seinen Hund gelegt und eine halbe Stunde schweigend mit ihm gesessen. Und danach war ihm klar, dass es die richtige Entscheidung für beide ist, ihn einschläfern zu lassen, denn der Hund hatte starke Schmerzen.
Unsere wirtschaftlichen und politischen Systeme sind auf kurzfristige Ziele ausgelegt – die nächsten Quartalsgewinne oder den kommenden Wahlzyklus –, aber nicht auf langfristige Ziele wie die nachhaltige Bekämpfung des Hungers in der Welt.
Nipun Mehta
Also ein Bot, der einem in schwierigen Lebenslagen Rat gibt. Wie praktisch.
Er kann auf tausend verschiedene Arten verwendet werden. Ich würde ihn nicht als „Ratgeber“ bezeichnen, sondern eher als Resonanzboden. Der Bot gibt Anstöße zum Nachdenken. Das Tolle ist, dass man das auf die kleinste Ebene herunterbrechen kann. Man kann die Bots auf verschiedene Kulturkreise, Philosophien, Religionen oder wissenschaftliche Ansätze programmieren. Und jeder kann sogar seinen individuellen fühlenden Bot haben, der auf den eigenen Werten und Erfahrungen basiert.
Ist eine solche KI nicht gefährlich, weil Menschen durch sie leicht manipuliert werden können?
Wir werden ständig von der Technik manipuliert. Aber die KI ist extrem gefährlich, weil sie uns beeinflusst, ohne dass es uns bewusst wird. Unsere Gesellschaften haben gesetzlich geregelt, ab welchem Alter man zum Beispiel Alkohol konsumieren darf. Bei den sozialen Medien haben wir das nicht getan, obwohl ihre Nutzung dieselben biochemischen Stoffe im Körper freisetzen kann. Erst jetzt, wo es zu spät ist, beginnen Gesetzgeber darüber nachzudenken. Und die KI wird sich noch viel schneller entwickeln.
Das Fernsehen hat 60 Jahre gebraucht, um 100 Millionen Nutzer zu erreichen, Netflix nur noch neun Jahre und ChatGPT zwei Monate. Künftige Plattformen werden nur noch Stunden brauchen, um solche Schwellenwerte zu erreichen. In der Vergangenheit waren monumentale Technologien wie Raumschiffe und Kernenergie im Besitz des öffentlichen Sektors. Heute gehören sie Unternehmen wie Meta, deren CEO von niemandem zur Rechenschaft gezogen werden kann. Es ist eine besorgniserregende Entwicklung, der wir nicht länger tatenlos zusehen dürfen.
US-Präsident Barack Obama hat Sie 2015 in seinen Rat zur Bekämpfung von Armut und Ungleichheit berufen. Was haben Sie dort erreicht?
Ich wünschte, ich könnten Ihnen da jetzt eine lange Liste nennen. Leider hatte unsere Arbeit nicht den Erfolg, den sich einige von uns erhofft hatten. Es waren politisch sehr schwierige Umstände: Während Obamas zweiter Amtszeit gab es im Kongress eine republikanische Mehrheit.
Woran ist die Arbeit des Rats konkret gescheitert?
Ein gewichtiger Grund war natürlich, dass 2016 mit Donald Trump ein republikanischer Präsident gewählt wurde, der ganz andere Prioritäten hatte. Nichtsdestotrotz würde ich keineswegs von Scheitern sprechen. Es war ein sinnvoller Prozess. Der Rat hat in seinem Abschlussbericht rund 80 konkrete Empfehlungen formuliert, die zum Teil immerhin auf lokaler Ebene umgesetzt werden.
Warum gelingt es vielen Staaten – auch sehr reichen wie den USA nicht – Armut und Ungleichheit zu bekämpfen?
Heute produziert die Welt genug, um alle Menschen zu ernähren. Das war vor 30 Jahren noch nicht so. Aber heute dürfte niemand mehr hungern. Es gibt zwei grundlegende Probleme. Erstens: Unsere wirtschaftlichen und politischen Systeme sind auf kurzfristige Ziele ausgelegt – die nächsten Quartalsgewinne oder den kommenden Wahlzyklus –, aber nicht auf langfristige Ziele wie die nachhaltige Bekämpfung des Hungers in der Welt. Zweitens: Ungleichheit schafft Macht. Bislang gibt es in unserer Kultur noch keine Bewegung hin von einer „Macht über“ zu einer „Macht mit“.
Die Welt wird derzeit von zahlreichen Krisen gebeutelt. Die Zahl der Kriege steigt, die Gewalt nimmt zu. Was verleiht Ihnen in diesen Zeiten Optimismus?
Das menschliche Herz reagiert immer auf Liebe. Das habe ich gestern wieder ganz konkret hier beim Europäischen Forum in Alpbach erlebt.
Ich stand in der Schlange, um mir einen Kaffee zu kaufen. Als ich drankam, fragte ich die Frau hinter mir, ob ich ihr einen Kaffee ausgeben könne. Sie freute sich sehr und sagte zu mir: „Ich revanchiere mich morgen bei Dir.“ Ich entgegnete: „Warum lädst Du stattdessen nicht einfach jetzt gleich die Person hinter Dir ein?“ Und sie tat es. Und die nächste Person tat es ebenfalls. Es entwickelte sich in der Kaffeeschlange eine richtige Kettenreaktion der Großzügigkeit.
Es ist so einfach und doch revolutionär. Denn es durchbricht die Silos. Niemand hat gefragt: „Bist Du links oder rechts?“ Oder darüber nachgedacht, ob die Person arm oder reich ist. Mit solchen kleinen Schritten kann jeder von uns der Polarisierung entgegenwirken, unser soziales Gefüge wiederherstellen und das wecken, was uns allen organisch innewohnt – die Liebe. Wenn wir öfter auf diesen Impuls hören, können wir den Verlauf der Menschheit ändern.